Der Bilderflut unserer Zeit zum Trotz fotografiere ich.

Hauptsächlich Menschen. Der Blick durch die Kamera, das Festhalten des momentanen Ausdrucks faszinieren mich. In einer Zeit, in der alles schnell gehen muss, in der sich alles bewegt, haben wir es verlernt, genauer hinzusehen. Besonders in die Gesichter – Ausdruck der Seele –, denen wir in der anonymen Öffentlichkeit und auch privat begegnen.

Begegnungen brauchen aber Zeit.

Wir müssen unsere Eindrücke wirken lassen, uns einlassen können auf den anderen, um festzustellen, ob es für uns eine angenehme oder unangenehme Begegnung ist. In der modernen, mobilen Gesellschaft sind wir – auf Bahnhöfen, in Supermärkten und Superkinos – ständig Sekundenbegegnungen ausgesetzt. All diese Gesichter fallen auf unser Auge und bewirken etwas in uns. Aber was, das zu realisieren, sind wir in der Fülle der Reize nicht imstande.

Mit der Kamera fange ich ein Gesicht ein und lasse es im Bild ruhen. Herausgelöst aus seiner Umgebung und aus der Zeit versuche ich, den Blick auf das Wesentliche, nämlich den Ausdruck dieses Gesichtes zu lenken. Auch deshalb wähle ich hauptsächlich die Schwarzweißfotografie: Ihr fehlt ein dem Auge gewohnter Reiz – eben die Farbe. Vielleicht lässt sie somit die Seele als etwas, das von Innen kommt und nicht sichtbar ist, stärker hervortreten.

Fotografien können in die tiefe Gefühlswelt des Menschen eindringen.

Eine Porträtserie bestehend aus 50, 100, 200 Fotos kann zeigen, wie viele Charaktere in uns stecken, die wir im Alltag nicht sehen oder nicht sehen wollen. Eine Frau mit harten Gesichtszügen und kühlem Blick erscheint auf einer Aufnahme plötzlich weich und sentimental. Dieses Gesicht wird ihr fremd sein. Einfach ein „missratenes“ Foto, oder sucht eine verborgene, vielleicht von der Person abgelehnte Eigenschaft nach Ausdruck?

Aus: „Eine Frau, viele Gesichter“, 1995